Wenn die Erinnerung trügt – Zeugen im Strafprozess

Der Zeugenbeweis ist das häufigste, gleichzeitig wohl aber auch das unzuverlässigste Beweismittel im Strafprozess. Besonders Aussagen von Augenzeugen wiegen meist schwer – gerade sie sind aber auch besonders fehleranfällig. Mitunter kann dies schwerwiegende Folgen haben: Fälle, in denen Unschuldige zu Unrecht verurteilt werden und jahrelang hinter Gittern verbringen, sind zwar nicht die Regel, sie kommen aber dennoch vor. Nachträgliche DNA-Untersuchungen ermöglichen es zuweilen, die zu Unrecht Verurteilten zu rehabilitieren – aber wie genau kommt es eigentlich zu solchen Fällen? Eine Studie der US-Organisation „Innocence Project“, die sich um die Aufklärung von Justizirrtümern bemüht, brachte dabei wichtige Ergebnisse zu Tage. Über 70 % der untersuchten Schuldsprüche, die durch Erbgutanalysen widerlegt werden konnten, beruhten auf fehlerhaften Angaben von Augenzeugen. Mittlerweile gibt es allerdings umfangreiche Erkenntnisse dahingehend, welche Faktoren auf eine Zeugenaussage wirken können und wie möglichst zuverlässige Angaben sichergestellt werden können.

 

Vorstellung als Erinnerung abgespeichert

 

Wie trügerisch eine vermeintlich sichere Erinnerung sein kann, wissen die meisten sicherlich aus eigener Erfahrung. Dieses Phänomen lässt sich mit der Funktionsweise des menschlichen Gehirns erklären: Gerade in belastenden Momenten sind Menschen häufig so aufgewühlt, dass die Wahrnehmung nur noch bruchstückhaft funktioniert. Zu großes Stressempfinden kann die Spuren im Gedächtnis verwischen. Unser Gehirn neigt dann dazu, diese Lücken zu füllen – es konstruiert also gewissermaßen eine ergänzte Version der tatsächlich wahrgenommenen Ereignisse und speichert diese als echte Erinnerung ab.

 

Ein Bewusstsein für die Probleme, die Augenzeugenaussagen mit sich bringen können, ist also äußerst wichtig, um folgenreiche Fehler zu vermeiden. Denn Zeugenbeweise sind meist das entscheidende Indiz, von dem die Verurteilung oder der Freispruch des Angeklagten abhängt.

Zwei grundlegende Aspekte sind hierbei entscheidend:

  • Die menschliche Erinnerung an ein Ereignis hängt von den betreffenden Personen und dem Ereignis selbst ab.
  • Die Erinnerungen eines Zeugen können durch Richter, Staatsanwälte oder Polizisten ungewollt verfälscht werden.

Persönliche Eigenschaften haben in vielerlei Hinsicht Einfluss auf unsere Erinnerungsleistung. Kleine Kinder und Senioren erinnern sich beispielsweise weniger zuverlässig an Details als junge Erwachsene bzw. Menschen mittleren Alters. Zudem können Menschen Gesichter ihrer eigenen ethnischen Gruppe weitaus besser in allen Details erfassen und dementsprechend wiedererkennen, als die von einer anderen.

 

Auch die konkrete Situation kann das Erinnerungsvermögen beeinflussen: Wer mit einer Waffe angegriffen wurde, kann sich oftmals nur schlecht an das Gesicht des Täters erinnern – weil die Aufmerksamkeit zu großen Teilen auf den bedrohlichen Gegenstand gerichtet war.

 

Wie aufmerksam und emotional beteiligt ein Mensch in einer Situation ist, hat Auswirkung darauf, wie gut er sich im Nachhinein an ein Ereignis erinnert. Ist etwas für uns von Bedeutung, können wir uns noch Jahre später exakt erinnern, anderes hingegen bringt man schon nach wenigen Stunden durcheinander. Solche Faktoren im Hinterkopf zu behalten, kann im Verhör oder bei den Ermittlungen zu einer Straftat vor übereilten Schlussfolgerungen bewahren.

 

[caption id="attachment_3208" align="aligncenter" width="1000"] Photographee.eu / shutterstock[/caption]

 

Ein Urteil verfestigt sich – auch wenn es falsch ist

 

Die spätere Selbsteinschätzung von Augenzeugen ist nämlich häufig kein Anhaltspunkt dafür, dass ihre Erinnerungen auch tatsächlich zutreffend sind. Denn je häufiger sie von einem Ereignis erzählen, desto sicherer werden sie häufig, dass sich das Geschehene genau so abgespielt hat. Werden sie dann erst vor Gericht gefragt, wie sicher sie sich sind – Monate oder sogar Jahre nach dem eigentlichen Vorfall – kann aus einer anfänglich unsicheren Annahme längst Gewissheit geworden sein.

 

Schon deshalb sollte stets die erste Aussage zu Täter und Geschehen am ehesten berücksichtigt werden, denn sie ist aller Wahrscheinlichkeit nach am wenigsten verfälscht. Die Erkenntnis, dass Menschen dazu neigen, ihre Urteile im Laufe der Zeit zu verfestigen, sollte von Polizei und Justiz unbedingt beachtet werden, denn sie hilft dabei, die Zuverlässigkeit von Augenzeugen realistisch einzuschätzen.

 

Gegenüberstellungen sind häufig fehlerbehaftet

 

Aber nicht nur die Zeugen selbst, sondern auch die Ermittlungspersonen können unter Umständen dazu beitragen, dass sich Fehler in den Wahrheitsfindungsprozess einschleichen.

 

Besonders anfällig in dieser Hinsicht sind Gegenüberstellungen. Gängige Praxis war hier über Jahre, dem Zeugen mehrere mutmaßliche Täter gleichzeitig vorzuführen, entweder anhand von Bildmaterial oder „in echt“. Zumeist wird ein Tatverdächtiger darunter gemischt, der aber natürlich auch unschuldig sein kann. Der Zeuge soll dann Auskunft darüber geben, ob es sich bei einer der Personen um dem Täter handelt.

 

Wichtig dabei ist vor allen Dingen, dass der Tatverdächtige nicht hervorstechen darf. Alle vorgestellten Personen sollten also die Angaben erfüllen, die der Zeuge bei der Personenbeschreibung gemacht hat. Sticht der Tatverdächtige nämlich hervor oder passt nicht in das Muster, besteht die Gefahr, dass der Zeuge sich allein aufgrund dieser Tatsache für ihn entscheidet. Viele Polizeidienststellen sind daher mittlerweile dazu übergegangen, die in Betracht kommenden Personen hintereinander statt gleichzeitig vorzuführen. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass der Zeuge sich schlicht für diejenige Person entscheidet, die dem erinnerten Aussehen des Täters am ehesten entspricht.

 

Ebenfalls notwendig ist, dass die Gegenüberstellung von einer unvoreingenommen Person durchgeführt wird, damit nicht möglicherweise unbewusst Hinweise gegeben werden, die die Aussage des Zeugen beeinflussen könnten. Auch der Hinweis, dass sich die gesuchte Person nicht unbedingt unter den vorgeführten Personen befindet, kann Fehler vermeiden.

 

[caption id="attachment_3207" align="aligncenter" width="1000"] BCFC / shutterstock[/caption]

 

Zeuge – Welche Rechte und Pflichten bestehen?

 

Was aber, wenn man selbst eine Zeugenladung erhält? Grundsätzlich trifft die Aussageverpflichtung jeden. Die Strafprozessordnung macht allerdings Ausnahmen von dieser Pflicht und zwar mit den sogenannten Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechten.

 

Gemäß § 52 StPO kann das Zeugnis verweigert werden, wenn der Zeuge mit dem Beschuldigten verheiratet, verlobt, nahe verwandt oder verschwägert ist. Dieses umfassende Zeugnisverweigerungsrecht trägt dem potentiellen Konflikt des Angehörigen Rechnung und soll überdies den Zeugen davor bewahren, aus Solidarität falsche Angaben zu machen.

 

Das Zeugnis darf nach § 53 StPO auch von den sogenannten Berufsgeheimnisträgern verweigert werden. Diese Vorschrift dient dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen bestimmten Berufsgruppen und denjenigen, die ihre Dienste in Anspruch nehmen. Bei einigen Berufsgruppen entfällt dieses Recht jedoch, wenn sie von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden worden sind. Diese Befreiung kann jedoch jederzeit widerrufen werden, mit dem Ergebnis, dass dann das Zeugnisverweigerungsrecht wieder besteht.

 

§ 55 StPO schließlich gewährt kein generelles Zeugnisverweigerungsrecht, sondern nur das Recht, auf solche Fragen die Antwort zu verweigern, mit denen der Zeuge sich selbst oder einen Angehörigen, der nicht Beschuldigter in dem betreffenden Verfahren ist, der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen würde.

 

Je nach Sachlage und Einzelfall gilt es also, diverse Punkte zu beachten, damit die jeweiligen Rechte des Zeugen gewahrt bleiben.

 

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