Die Sanktionen des Strafrechts sind das schärfste Schwert des Staates im Umgang mit menschlichem Verhalten, das die Gesellschaft – insoweit repräsentiert durch den Gesetzgeber und die dessen Vorgaben interpretierenden Gerichte – in derart hohem Maße missbilligt, dass solches im Zuge der Vollstreckung entsprechender Strafurteile schwere Eingriffe in Grundrechte von Straftätern bis hin zu langjährigen Haftstrafen rechtfertigt. Dabei liegt die Notwendigkeit auf der Hand, durch effektive strafprozessuale Regeln und deren Befolgung dafür Sorge zu tragen, dass u. a. richterliche Fehlleistungen nicht zur Verurteilung möglicherweise Unschuldiger führen.
Der Fall: Verdacht des Fahrens ohne Fahrerlaubnis
Ein Hamburger Amtsgericht hatte darüber zu entscheiden, ob ein Angeklagter wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis strafbar war (§ 21 StVG).
Anlässlich einer Verkehrskontrolle war ein Mann – ob es sich bei diesem um den Angeklagten handelte, blieb bis zuletzt unklar – polizeilich aufgefordert worden, den Fahrzeugschein und seinen Führerschein auszuhändigen. Der Mann gab an, er habe es sehr eilig, weil er mit seinem vierjährigen, auf der Rückbank sitzenden Sohn unbedingt zum Kinderarzt müsse. Auch habe er nur den auf seine Ehefrau lautenden Fahrzeugschein, jedoch weder seinen Führerschein noch Ausweispapiere bei sich. Er könne diese Dokumente allerdings kurzfristig von zu Hause holen, da er nur wenige hundert Meter von der Kontrollstelle entfernt wohne. Nach Aufnahme der von dem Mann angegebenen Personalien und Einbehalt des Fahrzeugscheines wurde diesem ausnahmsweise weiterzufahren gestattet, um unverzüglich mit seinem Führerschein und Ausweispapieren zurückzukehren. Dies geschah allerdings nicht.
Sodann suchten die Polizeibeamten die aus dem Fahrzeugschein ersichtliche – und mit den diesbezüglichen Angaben des Mannes übereinstimmende – Anschrift der Fahrzeughalterin auf. Dort fanden sie vor dem Wohngebäude den zuvor kontrollierten Pkw vor. Die Wohnungstüre öffnete eine Frau, die später als die Ehefrau des Angeklagten identifiziert werden konnte. In der Wohnung befand sich außerdem der vierjährige Sohn des Angeklagten, der noch dieselbe Kleidung wie anlässlich der Verkehrskontrolle trug. Von dem kontrollierten Mann fehlte jedoch – wie auch vom Angeklagten – jede Spur.
Die vom Gericht letztlich zu entscheidende Frage war also jene der Identität zwischen dem kontrollierten Mann und dem Angeklagten. Diese hatten die Polizeibeamten zunächst in Ansehung eines im Nachgang zu der Kontrolle bei der zuständigen Behörde angeforderten Ausweisfotos des Angeklagten mehr oder weniger klar bejaht.
Freie tatrichterliche Beweiswürdigung und Zeugenbeweis
Nach der Strafprozeßordnung entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“ (§ 216 StPO). Diese Überzeugung muss sich nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auf „ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit“ stützen, „demgegenüber vernünftige Zweifel schweigen“.
Was die gerichtliche Würdigung von Zeugenaussagen anbelangt, sind in diesem Fall vor allem zwei Beweisregeln von erheblicher Bedeutung:
1. Widersprechen sich Zeugen in einem Punkt, von dem die gerichtliche Entscheidung letztlich abhängt (landläufig oft als „Aussage gegen Aussage“-Situationen bezeichnet), sind „besonders strenge Anforderungen“ an die Gründe zu stellen, aus denen das Gericht einer Aussage Glauben schenkt, der anderen aber nicht (BGH, StV 1990, 99; NStZ-RR 2003, 33).
2. Besondere Vorsicht ist stets geboten im Zusammenhang mit dem Wiedererkennen von Personen: Ein Nichtwiedererkennen in der Hauptverhandlung spricht regelmäßig gegen die Zuverlässigkeit einer früheren Identifizierung (BGH, StraFo 2005, 297).
Hauptverhandlung
Einer der Polizeibeamten bekundete in der über ein Jahr nach der vermeintlichen Tat stattfindenden Hauptverhandlung als Zeuge, er könne zwar nicht mehr sagen, ob es sich bei dem anwesenden Angeklagten um den seinerzeit kontrollierten Mann handele, wenn er diesen aber seinerzeit aufgrund des Ausweisfotos identifiziert habe, dann werde das „so schon richtig“ sein.
Die sodann aussagende Polizeibeamtin hatte das seinerzeitige Gespräch mit dem „Mann“ geführt und damit den unmittelbarsten Kontakt zu diesem gehabt. Sie sagte jedoch nicht nur aus, sie könne sich nicht mehr erinnern, ob es sich bei dem Angeklagten um den seinerzeit kontrollierten Mann handle, sondern dass sie „mit Sicherheit ausschließen“ könne, dass der Angeklagte dieser Mann sei. Diese Festlegung wiederholte die Beamtin mehrfach ausdrücklich auf diesbezügliche Nachfragen des Gerichts, des Staatsanwaltes und des Verteidigers.
Freispruch? Mitnichten. Der Vorsitzende Richter, dem bei dieser Aussage der Polizeibeamtin kurzzeitig die Gesichtszüge entglitten waren, erwog noch nicht einmal die Anregung einer Zustimmung aller Beteiligten zu einer Verfahrenseinstellung mit (§ 153a StPO) oder ohne Auflage (§ 153 StPO), wie es bei erkennbar dünner werdendem Eis für den Ankläger durchaus üblich ist. Vielmehr kehrte er nach kurzer Urteilsberatung zurück in den Verhandlungssaal und verurteilte den Angeklagten gemäß dem Antrag des Staatsanwaltes wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis.
Ganz unverblümt führte der Vorsitzende im Rahmen der mündlichen Urteilsbegründung aus, die Polizeibeamtin habe „sich wohl von der neuen Frisur des Angeklagten irritieren lassen“. Er jedenfalls sehe „keine andere plausible Erklärung“ als die Täterschaft des Angeklagten. „Ich weiß nicht, vielleicht bin ich ja falsch gewickelt, aber ich glaube, er war’s.“
Ob derlei lässige Konfabulationen geeignet sind, bereits vorgenannte allgemeine Überzeugungsstandards – Stützung auf „ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel schweigen“ – zu erfüllen, darf wohl mit Fug und Recht bezweifelt werden. Gleiches gilt in puncto‚ sich in entscheidungserheblicher Weise widersprechende Zeugenaussagen (Stellung „besonders strenger Anforderungen“ an die Gründe, aus denen das Gericht gleichwohl einer der beiden Aussagen folgt).
Schließlich war hier auch kein bloßer Fall mißlungener Wiedererkennung des Angeklagten in der Hauptverhandlung gegeben, der aber bereits ein Regelindiz gegen die Zuverlässigkeit einer früheren Identifizierung begründete): Die Zeugin hatte vielmehr eine Identität des kontrollierten Mannes und des Angeklagten ausdrücklich und auf mehrfache diesbezügliche Nachfragen „mit Sicherheit“ ausgeschlossen. Beiläufige Spekulationen über etwaige Irritationen der Zeugin angesichts einer „neuen Frisur des Angeklagten“ dürften offensichtlich ungeeignet sein, derart klare und eindeutige Bekundungen unmittelbarer Tatzeugen im Sinne einer Verurteilung zu überwinden.
Niemals auszuschließende richterliche Fehlleistungen dieser Art sind ein Grund für die Existenz der strafprozessualen Institutionen der Berufung und der Revision. Die Kanzlei Dr. Granzin Rechtsanwälte steht Ihnen als erfahrener und kompetenter Ansprechpartner u. a. in allen straf- und bußgeldrechtlichen Verfahrensstadien jederzeit gerne zur Verfügung.
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